Wer ein Signal mit nur einer Mikrofon-„Instanz“ aufnimmt (also mit einem einzelnen Mikro oder einem Stereo-Paar), wie es verbreitet in der Pop-Musik der Fall ist, der hat mit Fragen der Signallaufzeit nichts am Hut. Derlei Probleme entstehen erst, wenn dieselbe Signalquelle mehrfach aufgenommen wird und die Laufzeit des Signals zur „Instanz“ x nicht identisch mit derjenigen zur „Instanz“ y ist. Werden dann x und y in denselben Kanal zusammengemixt, taucht das Thema evtl. Signalauslöschungen auf: Dieselbe „Stelle“ im Signal liegt in den beiden Mikrofonspuren zeitlich nicht exakt übereinander, sondern zueinander verschoben; umgekehrt heißt dies, daß in den beiden Spuren am gleichen Zeitpunkt die Phasenlage im x-Signal eine andere sein kann als im y-Signal.

Daher die Auslöschungsproblematik, die unter dem Stichwort „Kammfiltereffekt“ in ihrer Frequenzabhängigkeit bekannt ist. Frequenzabhängigkeit ist gegeben, weil die Phasenlage der beiden gemixten Signale zueinander von der zeitlichen Ausdehnung eines vollen Wellendurchgangs abhängt und diese Ausdehnung wiederum von der Frequenz. Ist der Wellendurchgang z.B. 1/20 einer Sekunde lang (20Hz), so spielt eine Verschiebung des zugemixten Signals um beispielsweise eine Millisekunde (entsprechend ca. 34cm Schallweg) keine Rolle; bei einem Wellendurchgang von z.B. nur einigen Millisekunden sieht es anders aus.

Die spontane Reaktion hierauf wird zunächst sein, die Laufzeitdifferenz technisch komplett beseitigen zu wollen. Audiotechnisch würde halt einfach durch Signaldelay das nähere Mikro virtuell zum weiter entfernten versetzt. Theoretisch die perfekte Lösung, aber praktisch? Die Laufzeitdifferenz muß schon SEHR exakt bekannt sein, damit die Korrektur wirklich korrekt erfolgt. Solange es um strukturell sehr einfache Signale geht, ist sowas möglich, und es gibt inzwischen (VST- usw.) Plugins, denen man innerhalb einer Multitrack-Software die Berechnung des Delays (und seine Anwendung) gleich automatisiert überlassen kann. Wer aber mal ein solches Plugin auf komplexere Signale aus der Praxis ansetzt, wird schnell feststellen, daß es mit der Eindeutigkeit der vom Plugin vorgeschlagenen Ergebnisse vorbei ist. Beim einen Versuch kommt dieser Wert heraus, beim anderen jener. Inspiziert man die beiden Wellenformen manuell, zeigt sich, warum das so ist. Sie sind alles andere als identisch, jedenfalls bei weitem nicht genügend, um daraus den verläßlich-korrekten Laufzeitunterschied zu entnehmen. Das ist so, weil das Quellsignal zu komplex ist: Die Schallquelle ist kein idealer Punkt im Raum, sondern möglicherweise breit ausgedehnt, was schon bei einem Konzertflügel oder einer kleinen Kammermusikgruppe ausgeprägt der Fall ist, erst recht bei einem Chor oder Orchester; die Mikrofone stehen also in keinem Falle exakt hintereinander auf einer einzigen Linie der Schallabstrahlung, sondern es gibt viele Schallquell-Punkte und unendlich viele Abstrahlungsrichtungen, die für die beiden Mikros infolge ihrer unterschiedlichen Positionen unterschiedliches Ergebnis bringen; und auch der Raum mit der Vielzahl seiner Reflexionen trägt für beide Mikros an ihren unterschiedlichen Positionen zu unterschiedlichem Klangergebnis bei; hinzu kommen evtl. unterschiedliche Mikrofontypen, usw.

Schade, aber: Exakter Laufzeitausgleich ist in der Praxis meist nicht machbar.

Es gibt Tonmeister, die sich um die Problematik bekundetermaßen nicht sonderlich scheren, teils auch mit dem Hinweis, es gehe ja bei gängigen Schallwegdifferenzen zwischen den Mikros (also meist 1 bis 3 Meter) nur um Verzögerungen im Bereich von wenigen Millisekunden. Letzteres Argument ist allerdings sicherlich unrichtig. Von „NUR Millisekunden“ zu sprechen, verkennt die Gegebenheiten beim Schall. Denn eingangs genannte Zahlen deuten schon an, daß man bei Laufzeitverzögerungen im Millisekundenbereich gar nicht weit in der Frequenzskala nach oben zu gehen braucht, um arge Phasenverschiebungen zu haben: Wer zwei gleich laute Signale mischt, die 5 Millisekunden (ca. 1,70m) verschoben sind, der bekommt eine 180°-Phasendifferenz und damit Totalauslöschung schon bei einer Frequenz von 100Hz (u. 300Hz usw. aufwärts). Um das Problem rein laufzeittechnisch als entschärft betrachten zu können, müßten die Laufzeitdifferenzen gegenüber dem Rechenbeispiel mindestens 100-150fach verkleinert sein, also im unteren Mikrosekunden-Bereich liegen, damit die Auslöschungen nach oben in Frequenzbereiche „verbannt“ wären, wo sie nicht mehr so stark stören könnten (aber immerhin auch noch bedauerlich wären); anders ausgedrückt, müßten die Schallwegsdifferenzen im einstelligen Zentimeterbereich oder weniger liegen. Mit dem Hinweis „nur Millisekunden“ kann man sich also richtigerweise nicht beruhigen.

Aber vielleicht verschiebt man eben eines der Signale so, daß „nur Mikrosekunden“ dabei herauskommen? Dann hätte man die beschriebene Verlagerung der Auslöschung ausschließlich in oberste Frequenzbereiche. Nun, abgesehen davon, daß —wie schon gesagt— Auslöschungen z.B. bei 15kHz auch immerhin noch ärgerlich wären (wenn man sie denn anderweitig umgehen könnte), ist diese Lösung praktisch ohnehin kaum erreichbar. Und das schlicht aus dem gleichen Grund wie oben in puncto exakter Laufzeitausgleich. Beim Versuch eines exakten Laufzeitausgleichs reicht die erwähnte Unsicherheit schon in den untersten Millisekundenbereich. Wer in derlei Größenordnung „ins Schwimmen“ mit der korrekten Bemessung der Laufzeitdifferenz kommt, der kann von vornherein vergessen, sich in der Größenordnung von Mikrosekunden diesem Maß nähern zu wollen. Anders ausgedrückt: Wenn man die korrekte Laufzeitdifferenz so schlecht findet, gibt es auch keine mikrosekunden-feine Annäherung an sie.

Vorrangige Lösung kommt aber —anstatt aus der zeitlichen Dimension— vom Signalpegel her. Es war die Rede davon, daß zwei „gleich laute“ Signale gemixt werden (wenn Totalauslöschung die Folge sein soll). Sofern Tonmeister bekunden, sich nicht um Laufzeiten zu scheren, ist dies in aller Regel der Grund: Sie tun es im Ergebnis doch, indem sie eines der beiden Signale im Mix gegenüber dem anderen stark reduzieren. Mit 10 oder mehr dB Differenz wird aus dem Kammfilter eine erträgliche leichtere Welligkeit.

Wer dann immer noch etwas tun möchte, kann wieder zur Dimension Zeit zurückkehren und zusätzlich dem Rat z.B. von Michael Dickreiter folgen (u.a. in: „Mikrofon-Aufnahmetechnik“): Ungefähr-groben Laufzeitausgleich zwischen den beiden Mikros kalkulieren, und dann pauschal 20ms Delay für das lautstärkenreduzierte Mikro addieren. Die 20ms-Addition klingt zunächst etwas eigenartig, denn je größer die Laufzeitdifferenz, umso weiter nach unten verschieben sich die untersten von Auslöschungen betroffenen Frequenzen (vgl.o.). Nun ja, aber hier geht es nicht mehr um Verschiebung von betroffenen Frequenzen. Das müßte in der Tat zur anderen Seite hin erfolgen, also durch möglichst winzige Laufzeitunterschiede, ist aber praktisch sowieso fruchtlos, wie vorher festgestellt. 20ms ist vielmehr schon so viel zeitlicher Zwischenraum, daß die inhaltliche Ähnlichkeit beider Wellenformen zum selben Zeitpunkt zumeist bereits gering ist. Zusammen mit der vorher erwähnten Pegeldifferenz sind dann Auslöschungen deshalb kein Thema mehr.

Soweit zur Theorie. Wäre schön, ein bißchen Feedback aus der Praxis zu bekommen. Wie haltet Ihr es im tontechnischen Alltag mit den Laufzeiten bei Multimikrofonie??