Ambisonics in der Praxis
Im vergangenen November hatte ich mich hier mit der Ambisonics-Technik befasst und einen weiteren Beitrag dazu in Aussicht gestellt, der nach einer (für mich ersten) praktischen Anwendung des Verfahrens verfasst werden sollte.
Dieses Versprechen möchte ich nun einlösen, nach zwischenzeitlich (in einer Wuppertaler Kirche) erfolgten Soloklavieraufnahmen in 3-kanaligem Ambisonics.
Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Ich kann Ambisonics empfehlen, werde es zukünftig wieder anwenden und habe mich auch für die Verwendung der „ambisonisch“ aufgenommenen Dateien entschieden, im Vergleich mit den Daten einer von mir noch parallel aufgenommenen Doppel-M/S.
Klang und Variationsmöglichkeiten, resultierend aus der Verwendung dreier koinzidenter Mikrofone, sind zunächst einmal allgemein beeindruckend.
Dies sagt allerdings noch nichts im Vergleich von Ambisonics und Doppel-M/S aus, die ja beide koinzidente 3er-Kombis sind. Denn abgesehen von den grundlegenden Vorzügen der Verwendung eines (echten) Omni-Mikrofons im Rahmen von Ambisonics (vgl. meinen November-Artikel) sind Doppel-M/S und Ambisonics eng verwandt.
Wie alle Mikrofon-Setups, so leben auch diese beiden stark in und durch die Qualitäten und Klangcharakteristika der jeweils verwendeten Mikrofone (sofern man diese Mikrofon-Charaktere nicht durch Frequenzgang-Nivellierung einander anzugleichen versucht).
Was mich daher die Ambisonics-Aufnahmen wählen liess und nicht die Doppel-M/S, war weniger rein theoretisch-technisch in Ambisonics basiert, sondern hatte zweierlei konkrete Aspekte:
- Zum einen ist es wunderbar praktisch, klangliche Veränderungen in allen Parametern —Stereoweite, Richtcharakteristik, Rotation, „Zoom“— mit einem VST-Plugin vornehmen zu können, anstatt quasi „zu Fuss“ in Gestalt von (neben gängig plugin-zugänglichen Aufgaben) noch notwendigen Signal-Summenbildungen. Für Ambisonics gibt es mehrere Plugins (ich verwende Soundfield SurroundZone2), während mir bei Doppel-M/S nur ein Schoeps-Plugin bekannt ist, das exakt auf die Eigenschaften bestimmter Schoeps-Mikros zugeschnitten ist und daher für andere Mikrofone nicht adäquat wäre.
- Zum anderen sprach hier vor allem das klangliche Ergebnis der konkret von mir verwendeten Mikrofone für das Ambisonics-Trio. Dabei spielte zwar u.a. auch der Bassbereich eine Rolle, aber selbst dessen angenehm tief reichende Sattheit gründete sich in meinem Falle weniger auf den prinzipiellen Bass-Vorteil der im Ambisonics-W-Kanal einzusetzenden echten Druckkugel als auf die beiden verwendeten fig8-Mikrofone (Beesneez Lily).
Klangliche Gründe sind es deshalb auch, aus denen heraus ich die oben angesprochene Frequenzgangkorrektur zwischen den Ambisonics-Mikrofonen nur sehr moderat durchführe, letztlich weniger um der Angleichung willen als in Richtung auf das für mich gewünschte Gesamtklangergebnis.
Sicherlich ist zwar richtig, dass technisch-theoretisch ein möglichst identischer Frequenzgang für die absolut perfekte Ambisonics-Berechnung zu fordern ist (s. mein November-Beitrag, Stichwort „Elektrische Koinzidenz“).
Im theoretischen Ideal wären also die Mikrofonfrequenzgänge per Einzelspur-EQ anzugleichen, und für das klanglich gewünschte Gesamtergebnis könnte dann gegebenenfalls wie üblich ein abschliessender EQ im Summen-bzw. Masterkanal bemüht werden.
Zunächst ‘mal bedeutet dies aber doppelte und oftmals teils gegenläufige klangliche Verbiegungen in den zwei EQ-Stationen. Sind die EQs auf der Ebene der Einzelspuren linearphasig —und dies ist natürlich geboten—, mag das noch gut tolerabel sein, erst recht, wenn es sich sogar um LinearPhase mit forward-backward-IIR handelt (das ja wohl das Pre-Ringing vermeidet, mir aber nur in zwei relativ teuren Plugins bekannt ist). Dann reduziert sich der doppelte EQ-Eingriff im Ergebnis auf die übliche EQ-Instanz im Summenkanal, also die immer und überall sich stellende Aufgabe des EQing im Blick auf technische und geschmacklich-klangliche Aspekte.
Was mir aber bei extensiver und doppelter (und evtl. Hin-und-Her-) Verbiegung sehr zweifelhaft erscheint, ist, wieweit etwaig spezieller klanglicher Charme —in meinem Falle insbesondere aus den Beesneez Lily— im Rahmen von derlei Nivellierung nicht zu weiten Teilen auf der Strecke bliebe.
Überdies scheint eine „tolerante“ Handhabung der Frequenzgänge innerhalb des Ambisonics-Trios auch unter folgender Erwägung vertretbar:
Hat man gleichartige fig8-Mikrofone (dies ist empfehlenswert), so ginge es in der potentiellen Frequenzgang-Nivellierung letztlich allein um den Unterschied zwischen den beiden Achten und dem Omni.
Da die Richtungsinformationen — links/rechts, vorne/hinten— aus den Achten kommen und diese gleich sind, wirkt sich in der Richtungsberechnung ein etwaiger Frequenzgangunterschied zum Omni praktisch nicht aus, da der Unterschied gleichsinnig in jeweils beiden Richtungen wirkt, nämlich sowohl auf der Vorder- als auch auf der Hinterseite der fig8 auftaucht. Bei einer einfachen M/S-Anordnung hat man den gleichen Effekt, weshalb hier penible Frequenzgangangleichungen von vornherein nicht sonderlich diskutiert werden.
Für die Richtungsabbildung scheint also eine Frequenzgangharmonisierung entbehrlich. Wo sie theoretisch relevant sein kann, das ist zum einen die Stereoweite (also die Bemessung des Punktes kompletter äusserer Links-Rechts-Abbildung), die sich als Folge von Frequenzgangdifferenzen zwischen W- und Y-Kanal über verschiedene Frequenzen hinweg ändern könnte. Und zum anderen ist es die aus der Summenbildung von W- und X-Kanal entstehende Richtcharakteristik der errechneten virtuellen Ambisonics-Mikrofone. Auch sie kann durch Mikrofon-Frequenzgangdifferenzen über Frequenz hinweg variabel werden.
Für die Praxis darf man aber wohl beide genannte Relevanzen —gegenüber den Vorteilen des nur moderaten EQ-Eingriffs— als getrost nachrangig bezeichnen, erst recht im Rahmen der Aufnahme eines einzelnen Instrumentes, selbst wenn es ein sehr weitreichendes Frequenzspektrum aufweist (Konzertflügel).
Und die beiden benannten theoretischen Relevanzen perfekter Frequenzgang-Angleichung sind übrigens selbstverständlich auch nichts speziell für Ambisonics Gültiges: Wo summierend aus verschiedenen, frequenzgang-differenten Mikrofonen bzw. Kapseln Richtcharakteristiken erzeugt werden, ist immer die potentielle Änderung der Charakteristik in Abhängigkeit von der Frequenz präsent. Und die erwähnte potentielle, frequenzabhängige Stereoweitenänderung als Folge unterschiedlicher Mikrofonfrequenzgänge trifft auf jede M/S-Decodierung zu, nicht nur diejenige im Rahmen von Ambisonics.
Nur wird eben im Zusammenhang anderer Mikrofon-Setups hierüber von vornherein kaum weiter räsoniert.
Fazit: Wer eine gewisse, auch zeitintensive Fummelei bei der Herstellung eines korrekt ausgerichteten, koinzidenten 3er-Mikrofon-Setups nicht scheut, ebenso etwaige Gain- bzw. Sensitivitätsunterschiede an Mikrofonen, Preamps und Wandlern auszugleichen bereit ist (s. mein November-Artikel in puncto „Elektrische Koinzidenz“), für den kann Ambisonics eine interessante und lohnende Sache sein.
Die angesprochene Fummelei wird nebenbei bemerkt noch grösser, wenn man alle drei Mikros auf einem Stativ montiert, allerdings wird man dann hinterher belohnt, wenn es um etwaige Positionskorrekturen des gesamten Array geht. Diese können allgemein klangliche Gründe haben, sind aber auch schon deshalb noch zu erwarten, weil die Stereobalance zu checken ist: Zwar ist die Balance selbstredend noch in der DAW korrigierbar, aber man tut immer gut, für ordentliche Mittigkeit des Stereobildes möglichst schon hardwareseitig zu sorgen (frei nach Wes Dooleys Motto „Fix it in the Mic“…). Eine Drehung um die Hochachse oder auch jede sonstige Positionsveränderung ist mit einem auf einem einzigen Stativ justierten 3er-Setup relativ leicht getan, die Mikrofone bleiben untereinander korrekt ausgerichtet. Aber bei zwei oder gar drei Stativen geht dann die Fummelei wieder los…
Die Verwendung möglichst guter und klanglich passender Mikrofone erspart Ambisonics einem natürlich nicht, ebensowenig die Beachtung der alten Regel, dass es nicht ungünstig ist, wenn auch dasjenige gute Qualität hat, was VOR den Mikrofonen abläuft…
Und dass man auch mit nur zwei Mikrofonen glücklich werden kann (in welchem bevorzugten Setup auch immer), ist natürlich klar und hat sich auch im Rahmen meiner Aufnahmen wieder gezeigt, als ich nebenbei testweise eine Äquivalenzstereo-Aufnahme mit zwei Röhren-Kleinmembran-Nieren Typ Soyuz-011 machte.
In der Praxis einer Voll-/Hauptaufnahme würde man insoweit zwar sicher noch ein — weiter entfernt postiertes— Mikrofon-Duo als Raummikros zur Zumischung hinzunehmen, aber selbst nur mit einem Nierenpärchen plus angemessen ausgewähltem und dosiertem Software-Hall (insbesondere convolution reverb) könnte durchaus eine ansprechende Aufnahme entstehen.
Mehr zum Soyuz-011 findet sich übrigens in einem parallel veröffentlichten Post…
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